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Hirtenwort des Erzbischofs

Liebe Brüder und Schwestern im Erzbistum München und Freising,

sicher war es für viele von Ihnen überraschend, von meiner Bitte an den Heiligen Vater zu hören, auf mein Amt als Erzbischof zu verzichten. Mein Brief an Papst Franziskus und meine persönliche Erklärung dazu sind ja veröffentlicht und zugänglich. Ich will das, was ich in diesen Texten geschrieben und in meinem Statement vor den Medien gesagt habe, hier nicht wiederholen.

Auch für mich überraschend kam die Antwort des Papstes wenige Tage später, und ich habe ihm gegenüber und öffentlich deutlich gesagt, dass ich – für mich selbstverständlich – im Gehorsam seine Entscheidung akzeptiere. Aber für mich ist damit die Angelegenheit nicht einfach erledigt, so dass ich einfach weitermache als sei nichts geschehen. Natürlich werden die Kirche und auch das Bischofsamt nicht je neu erfunden. Wir stehen in einer langen Tradition, die aber immer neu weiterentwickelt werden muss. Schon seit Langem bin ich der Überzeugung, dass wir einen großen Epochenwandel erleben - nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Gesellschaft. In vielen Begegnungen und Gesprächen im Erzbistum höre ich, dass auch Sie viele Fragen und Sorgen beschäftigen, sowohl was die Kirche und den Glauben, aber auch unser gesellschaftliches Miteinander angeht. Hinzu kommen neue Fragen und Sorgen aufgrund der Corona-Pandemie. Das alles fordert uns heraus, und es ist nicht leicht, diesen Wandel zu gestalten in der Einheit des Volkes Gottes - nicht nur bei uns, sondern auch weltweit.

Einschneidend bleibt für mich die Erkenntnis, dass im Raum der Kirche so viele Menschen Unheil und Leid erfahren haben und nach wie vor daran schwer tragen. Dazu gehört der sexuelle Missbrauch. Es ist unerlässlich und zugleich eine Herausforderung, dass wir den Opfern und Betroffenen zuhören und von ihnen lernen dürfen.
Erst in jüngerer Zeit beginnen wir zu verstehen, dass und wie sehr sexueller Missbrauch und Gewalt auch Konsequenzen für das Leben von indirekt Betroffenen haben, etwa in den Familien oder auch in unseren Gemeinschaften und Pfarreien. Und es gehört zur Aufarbeitung dazu, dass wir auch hier das Gespräch suchen und nach Wegen eines neuen Miteinanders suchen, wie ich es erst vor kurzem in Begegnungen wieder erfahren habe.
Aber auch in einem weiteren Sinne haben Menschen Unheil und Leid erfahren durch den Missbrauch der Botschaft Jesu, denn sie haben durch Unterdrückung, Einschüchterung und geistliche Arroganz das Evangelium oft nicht als befreiende und hoffnungsvolle Botschaft erfahren, sondern sind eher in eine Angst vor Gott geführt worden.

Gott sei Dank gab und gibt es auch – und noch mehr - die großartige Erfahrung, dass der Raum der Kirche und des Glaubens eine Wirklichkeit ist, die das Leben weit macht und vertieft, eine Wirklichkeit, die unserem Leben Fundament und Kraft gibt.

Seit dem Jahr 2010 weicht aber für mich nicht der Schock, dass dies Schreckliche von Amtsträgern und Mitarbeitern der Kirche geschehen ist und wir Bischöfe das möglicherweise nicht immer intensiv genug gesehen haben oder sehen wollten. Diese Aspekte habe ich schon in meinen Hirtenworten 2010 und immer wieder in Vorträgen und öffentlichen Äußerungen deutlich gemacht. Meine Entscheidung zum Amtsverzicht, zu dem ich mich nach reiflichem Überlegen entschieden hatte, sollte ein Zeichen sein, dass ich für all das persönlich und als Amtsträger Mitverantwortung übernehmen muss, denn als Bischof stehe ich für die Kirche ein, auch für das, was in der Vergangenheit geschehen ist.

Der Heilige Vater hat meinen Brief sehr ernst genommen und mir in sehr brüderlicher Weise geantwortet. Ich möchte deshalb auch Ihnen allen im Erzbistum sagen, dass ich immer gerne bei Ihnen und mit Ihnen unterwegs war und bin; als Westfale fühle ich mich hier in Oberbayern sehr wohl, ja inzwischen kann ich sogar sagen „dahoam“. Nach dem Antwortbrief von Papst Franziskus sage ich neu Ja zu meinem Dienst als Erzbischof von München und Freising. Gemeinsam mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den diözesanen Gremien werde ich überlegen, was es bedeuten kann, nicht einfach zur Tagesordnung überzugehen, wie ich es in meiner Erklärung formuliert habe. Aber klar ist für mich auch: Wenn sich eine neue Situation ergibt oder veränderte Umstände, die meinen Dienst grundsätzlich in Frage stellen, werde ich prüfen, ob ich nicht erneut das Gespräch mit dem Heiligen Vater suchen sollte. Meinen Dienst als Bischof verstehe ich nicht als ein Amt, das mir gehört und das ich verteidigen muss, sondern als einen Auftrag für die Menschen in diesem Erzbistum und als Dienst an der Einheit der Kirche. Sollte ich diesen Dienst nicht mehr erfüllen können, dann wäre es an der Zeit – nach Beratung mit den diözesanen Gremien und auch der Aufarbeitungskommission und dem Betroffenenbeirat – zum Wohl der Kirche zu entscheiden und meinen Amtsverzicht erneut anzubieten.

Jetzt aber sage ich mit großer Bereitschaft wieder ein neues Ja zu meinem Auftrag hier in unserem Erzbistum und bitte Sie um Ihr Gebet und Ihr Vertrauen. Ich bin überzeugt: Wir brauchen Reform und Erneuerung in und für die Kirche, aber wir brauchen auch den Sinn für die Einheit des Gottesvolkes, die in der Vielfalt sichtbar wird. Lassen Sie uns diesen Weg in unserem Erzbistum gemeinsam gehen. Als Ihr Erzbischof bleibe ich mit Ihnen gemeinsam unterwegs und möchte weiter meinen Beitrag leisten, dass wir die anstehenden großen Herausforderungen gut meistern. Mit Gottes Hilfe kann es gelingen.

So grüße ich Sie alle herzlich und bin im Gebet mit Ihnen verbunden.

Ihr Reinhard Kardinal Marx
Erzbischof von München und Freising

München, im Juli 2021

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